Der Fernrot-Hebel: Dein ultimativer Guide für Masse, Klasse & Effizienz bei Cannabis
Wie viel Lichtfarbe steckt in deinem Ertrag?
Stell dir vor, du könntest mit einem unsichtbaren Lichtschalter entscheiden: Soll deine Pflanze mehr Bud-Masse aufbauen oder bis an die Grenze ihrer chemischen Power gehen? Neue Forschung zeigt: Genau das ist möglich – und der Schlüssel liegt im Verhältnis von Rot zu Fernrot. Hier erfährst du, wie du diesen Hebel steuerst wie ein Profi.
Wir verlassen uns dabei nicht auf Halbwissen oder “Bro-Science”, sondern sezieren die knallharten Fakten aus entscheidenden wissenschaftlichen Arbeiten, die unser Verständnis revolutionieren: der brandaktuellen Untersuchung zum Masse-vs-Klasse-Konflikt von Kotiranta et al.¹, der bahnbrechenden Studie zum End-of-Day-Trick von Peterswald et al.² und der fundamentalen Studie zum Emerson-Effekt von Govindjee et al.³. Am Ende wirst du nicht nur wissen, was zu tun ist, sondern auch, warum du es tust – und damit die ultimative Kontrolle über das Ergebnis in deinem Grow-Zelt erlangen.
Das geheime Auge Deiner Pflanze: Wie Cannabis Licht “sieht”
Um den Fernrot-Hebel zu verstehen, müssen wir eine grundlegende Frage klären: Wie “sieht” eine Pflanze ihre Umgebung? Sie hat keine Augen im herkömmlichen Sinne, aber sie besitzt etwas viel Feinfühligeres: ein unglaublich sensibles System aus Photorezeptoren. Der wichtigste für unsere Zwecke ist das Phytochrom-System.
Stell dir dieses Protein wie eine reversible, molekulare Licht-Wippe vor. Diese Wippe existiert in zwei Zuständen:
- Pr (Phytochrome red): Die inaktive Form, die auf ein Signal wartet.
- Pfr (Phytochrome far-red): Die biologisch aktive Form, die in der Zelle Kaskaden von Reaktionen auslöst.
Trifft rotes Licht (ca. 660 nm) auf die inaktive Pr-Form, klappt die Wippe um und wird zur aktiven Pfr-Form. Das ist das Signal für “freie Bahn, volle Sonne!”. Trifft fernrotes Licht (ca. 730 nm) auf die aktive Pfr-Form, klappt die Wippe sofort wieder zurück. Ein hoher Anteil an Fernrot (also ein niedriges Rot-zu-Fernrot-Verhältnis, R:FR) ist für eine Pflanze ein Alarmschrei: “Panik! Ich werde überwuchert!”.
Diese Panikreaktion ist das sogenannte Schattenflucht-Syndrom (SAS). Die Pflanze schaltet in einen Überlebensmodus und investiert all ihre Energie in rasantes Längenwachstum. Doch es ist mehr als nur eine simple Streckung: Das R:FR-Verhältnis beeinflusst direkt die Genexpression. So zeigt uns beispielsweise eine brandneue, wenn auch noch von unabhängigen Experten unbestätigte (non-peer-reviewed) Studie von Hempler et al. tiefe Einblicke in diesen Prozess.⁵ Sie zeigt, wie das Phytochrom-System direkt mit den entscheidenden “Blüh-Genen” kommuniziert. Insbesondere das Gen FT (Flowering Locus T), das als “Florigen” (ein blühinduzierendes Hormon) das zentrale “GO!”-Signal für die Blüte gibt, wird durch das Lichtverhältnis gesteuert. Ein niedriges R:FR-Verhältnis kann die Expression dieser Gene unterdrücken und so die Blüte verzögern, während die Pflanze versucht, zu “fliehen”. Gleichzeitig wird die Produktion von “Luxusgütern” wie Cannabinoiden und Terpenen drastisch zurückgefahren.
Der Emerson-Effekt – Warum Fernrot der Turbo ist
Moment mal, Fernrot liegt doch außerhalb des photosynthetisch aktiven Bereichs (PAR, 400-700 nm)! Richtig, aber es ist kein “Junk-Light”. Der Emerson-Enhancement-Effekt, dessen grundlegende Mechanismen bereits in den 1960er Jahren von Forschern wie Govindjee an isolierten Chloroplasten nachgewiesen wurden, erklärt dieses scheinbare Paradoxon.³
Stell dir den Motor der Photosynthese wie einen hochkomplexen Zwei-Zylinder-Motor vor: die Photosysteme I (PSI) und II (PSII). Für maximale Leistung müssen beide Zylinder synchron laufen.
- Photosystem II wird am besten durch rotes Licht angetrieben.
- Photosystem I läuft am besten mit fernrotem Licht.
Gibst du nun gleichzeitig rotes und fernrotes Licht, werden beide “Zylinder” optimal befeuert, der Flaschenhals löst sich auf, und die Gesamteffizienz des Motors – also die Photosyntherate – steigt dramatisch an. Moderne Studien, wie die wegweisende Arbeit von Zhen und Bugbee, haben gezeigt, dass Fernrot-Photonen eine vergleichbare Effizienz wie traditionelle Photosynthese-Photonen haben können.⁴
Werkzeugkasten 1: Die Masse-vs-Klasse-Steuerung in der Blüte (Kotiranta et al., 2024)
Eine finnische Studie von Kotiranta et al. hat den Zielkonflikt zwischen Ertrag und Qualität schonungslos offengelegt. Sie liefert die wissenschaftliche Grundlage für unsere erste Strategie in der Blütephase.¹
Das Experiment & die Ergebnisse
Die Forscher verglichen Cannabis-Stecklinge unter vier verschiedenen R:FR-Verhältnissen (3, 5, 9 und 12) bei identischer Gesamtlichtstärke.
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Team Masse (Niedriges R:FR): Je mehr Fernrot im Licht war, desto höher wuchsen die Pflanzen.
- 💡 Praxis-Tipp: Die stärkste Reaktion war die Veränderung der Pflanzenmorphologie. Bei niedrigem R:FR wurden die Blattstiele länger und die Blattfläche größer. Für Indoor-Grower kann dieses Streckungswachstum jedoch ein Nachteil sein, da es zu Platzproblemen und potenziell lockereren, weniger dichten Buds führen kann.
- Wichtige Einordnung: Während der Ertrag der Hauptblüte tendenziell bei niedrigem R:FR höher war, waren die Unterschiede im Gesamtertrag klein und statistisch nicht signifikant. Ein praktischer, robuster Mehrertrag ist also nicht garantiert.
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Team Klasse (Hohes R:FR): Genau umgekehrt sah es bei den Wirkstoffen aus. Je weniger zusätzliches Fernrot die Pflanzen bekamen, desto potenter wurden sie. Die Konzentrationen von CBDA, THCA und CBGA nahmen mit zunehmendem R:FR-Verhältnis zu.
- Der Mechanismus dahinter: Ein niedriges R:FR-Verhältnis fördert die Akkumulation von PIFs (Phytochrome Interacting Factors), die als Suppressoren für den MEP-Stoffwechselweg (die biochemische Fabrik für Cannabinoide) wirken. Ein hohes R:FR-Verhältnis baut diese PIF-Bremsen ab und gibt Gas bei der Wirkstoffproduktion.
Die dynamische Strategie für Deinen Grow:
- Frühe Blüte (Woche 1-4, “der Stretch”): Wir wollen Masse! Also: Fernrot AN. Wir aktivieren gezielt das Schattenflucht-Syndrom für eine luftigere Struktur und nutzen den Emerson-Effekt für maximale Photosyntheseleistung.
- Späte Blüte (Woche 5-Ernte): Wir wollen Klasse! Also: Fernrot AUS. Wir schalten die zusätzliche Fernrot-Quelle ab, um die PIF-Bremsen zu lösen und die volle Energie in die Harz- und Wirkstoffproduktion zu lenken.
Werkzeugkasten 2: Blüte beschleunigen & Strom sparen (Peterswald et al., 2025)
Eine bahnbrechende australische Studie von Peterswald et al. hat untersucht, was passiert, wenn man Fernrot gezielt am Ende des Tages einsetzt.²
Die Studie im Detail & die Ergebnisse
Die Forscher verglichen einen normalen 12-Stunden-Lichtzyklus (12L) mit einem cleveren Energiesparmodell: nur 10 Stunden Hauptlicht, gefolgt von 2 Stunden reinem Fernrot-Licht in der Dunkelheit (10L_2D).
- Northern Lights (der Gewinner): Der Gesamt-Cannabinoid-Ertrag pro Pflanze stieg um fast 70%.
- Hindu Kush (der Sprinter): Die Pflanzen waren deutlich schneller in ihrer Entwicklung.
- Cannatonic (der Sonderfall): Hier schien Fernrot die CBDA-Akkumulation zu unterdrücken.
Zusätzlich konnten die Forscher eine Energieeinsparung von 5,5% nachweisen.
Die Lektionen aus dem Labor: Was NICHT funktioniert
- Lektion 1: Timing ist alles! Fernrot während des Hauptlichts zeigte keinen signifikanten Vorteil. Der magische Ertragsschub entsteht ausschließlich durch den gezielten Impuls NACHDEM das Hauptlicht ausgegangen ist.
- Lektion 2: Mehr ist nicht immer besser! Eine Variante mit 4 Stunden Fernrot am Ende des Tages reduzierte den Blütenertrag signifikant! Der “Sweet Spot” liegt also bei etwa 2 Stunden.
Warum funktioniert das? Die hormonelle Panikreaktion
Dieser EOD-Trick manipuliert die “innere Uhr” der Pflanze. Der Fernrot-Impuls am Ende des Tages schaltet das Phytochrom-System schlagartig in den “Nachtmodus”. Die Nacht erscheint der Pflanze länger. Sie “denkt”, der Herbst kommt schneller und schaltet in einen reproduktiven Panik-Modus, bei dem sie alle Ressourcen in die Produktion von Blüten, Harz und Cannabinoiden investiert.
Exkurs: Fernrot in der vegetativen Phase – Gas geben oder kompakt bleiben?
- Szenario 1: Schnelles Wachstum (z.B. für SCROG) -> Fernrot AN! Deine Pflanzen strecken sich stärker und füllen die Fläche schneller.
- Szenario 2: Kompakte Pflanzen (z.B. für SOG) -> Fernrot AUS! Deine Pflanzen bleiben gedrungen und buschig.
🌱 Spickzettel – Dein Fahrplan für den Fernrot-Hebel
Phase / Zeitpunkt | Strategie & R:FR-Verhältnis | Ziel | Vorteile | Nachteile / Risiken |
---|---|---|---|---|
Veg – SCROG Aufbau (Wuchsphase, schnell) | Fernrot AN → niedriges R:FR (ca. 3–5) | Schnelles Höhenwachstum, große Blätter, Netz zügig füllen | Kürzere Veg-Phase; mehr Biomasse schneller erreichbar | Mehr Stretch → evtl. Platzprobleme; lockerere Buds möglich |
Veg – Kompakter Wuchs (SOG / kleine Zelte) | Fernrot AUS → hohes R:FR (≥10) | Buschiger, kompakter Wuchs, kurze Internodien | Optimale Ausnutzung der Höhe; feste Struktur | Flächenfüllung dauert länger |
Blüte – Woche 1–4 (“Stretch-Phase”) | Fernrot AN tagsüber (niedriges R:FR 3–5) | Höhe & Lichtdurchlässigkeit optimieren, Grundgerüst aufbauen | Bessere Belichtung unterer Buds; Emerson-Effekt nutzt PS voll aus | Streckung kann bei wenig Raum problematisch sein |
Blüte – Woche 5 bis Ernte (Reifephase) | Fernrot AUS (R:FR etwa 12) | Maximale Wirkstoffdichte, Terpene & Harzproduktion | Höchste Potenz; kein unnötiges Höhenwachstum | Leicht geringerer Biomasse-Ertrag möglich |
End-of-Day (EOD) (Ganze Blütephase) | NUR nach Lichtaus, ca. 2 h Dauer (730–735 nm) | Blüte triggern, Ertrag + Potenz steigern (sortenabhängig) | Energie −5,5 %; schnellere Ernte möglich | Manche Sorten reagieren negativ (z.B. CBDA-Senkung bei Cannatonic) |
Fehlanwendungen (Vermeiden!) | EOD > 4 h; EOD > 30 Min nach Lichtaus; unnötiges FR in Endblüte | – | Vermeidung von Ertragsverlust und Stressreaktionen | Erhöhtes Fehlerrisiko, falsche Signale an Pflanze |
🔍 Wichtige Mechanismen im Überblick
- Phytochrom-Schalter: Rot (660 nm) aktiviert Pfr = Wachstum & Blühstart; Fernrot (730 nm) wandelt zurück zu Pr = „Schatten“-Signal.
- SAS: Niedriges R:FR → vermehrtes Strecken.
- Emerson-Effekt: Fernrot füttert PS I → höhere Photosyntheserate.
- Gensteuerung (Hempler⁵): R:FR beeinflusst FT-Blühgen und Blühzeitpunkt.
💡 Praxis-Tipps
- Kontrollierter Stretch: In der Veg-Phase & frühen Blüte FR nur so stark wie nötig einsetzen – Stretch kontrollieren.
- EOD-Protokoll: Den EOD-Trick immer eng an die Studien halten: Sofort nach Hauptlicht, ca. 2 h.
- Wirtschaftlichkeit: Fernrot-LEDs abwägen – Stromverbrauch vs. Qualität-/Ertragsgewinn.
- Sorten-Logbuch: Notizen zu Sortenreaktionen machen – große Genotypen-Variabilität!
Fazit: Du bist der Regisseur Deines Lichts!
Diese Studien zeigen: Die Zeit des “One-Size-Fits-All”-Lichtzyklus ist vorbei. Wir haben mächtige, wissenschaftlich belegte Werkzeuge in der Hand.
Besonders wichtig ist die Erkenntnis aus den Studien: Cannabis ist nicht gleich Cannabis. Die große Variabilität zwischen Genotypen ist ein entscheidender Faktor. Während ‘Northern Lights’ unter dem EOD-Trick förmlich explodierte, reagierte ‘Cannatonic’ sogar negativ. Das ist die wichtigste Lektion für uns: Diese Strategien sind keine in Stein gemeißelten Gesetze, sondern eine exzellente, wissenschaftlich fundierte Startrampe. Der wahre Meister-Grower nutzt dieses Wissen, um eigene Experimente mit seinen Lieblings-Sorten zu starten. Notiert euch die Ergebnisse, vergleicht die Resultate und findet den perfekten ‘Sweet Spot’ für eure Genetik.
Mit diesem Wissen und der richtigen Ausrüstung bist du nicht mehr nur Gärtner*in, sondern ein Licht-Regisseur, der die Performance seiner Pflanzen auf ein völlig neues Level hebt!
Ein kleiner Ausblick: Neben dem Rot-Fernrot-Hebel existieren weitere spektrale Werkzeuge wie UV-A und UV-B, die gezielt in der Cannabisproduktion eingesetzt werden können – insbesondere zur Beeinflussung der Wirkstoffprofile. Da dies ein eigenes, umfangreiches Thema ist, werden wir es in einem separaten Artikel behandeln. Doch all diese spektrale Magie nützt nichts ohne die richtige Hardware. Welche Lampe liefert das beste Spektrum? Wie schneiden moderne LEDs im Vergleich zu den alten NDL-Hasen ab, wenn es um das R:FR-Verhältnis geht? Und welche Modelle sind wirklich ihr Geld wert? All das und mehr klären wir in unserem kommenden, großen Lampen-Special, in dem wir die Technik hinter dem Licht genau unter die Lupe nehmen.
Bleib grün, bleib neugierig – dein Herr Brackhaus 🌱💡
Wissenschaftliche Quellen
¹ Kotiranta, S., Sarka, A., Kotilainen, T., & Palonen, P. (2024). Decreasing R:FR ratio in a grow light spectrum increases inflorescence yield but decreases plant specialized metabolite concentrations in Cannabis sativa. Environmental and Experimental Botany, 229 (2025), 106059. https://doi.org/10.1016/j.envexpbot.2024.106059
² Peterswald, T. J., Mieog, J. C., Kretzschmar, T., & Purdy, S. J. (2025). The effects of far-red light on medicinal Cannabis. Scientific Reports, 15(1). https://doi.org/10.1038/s41598-025-99771-6
³ Govindjee, R., Govindjee, & Hoch, G. (1964). Emerson Enhancement Effect in Chloroplast Reactions. Plant Physiology, 39(1), 10–14. https://doi.org/10.1104/pp.39.1.10
⁴ Zhen, S., & Bugbee, B. (2020). Far-red photons have equivalent efficiency to traditional photosynthetic photons: Implications for redefining photosynthetically active radiation. Plant, Cell & Environment, 43(5), 1259–1272. https://doi.org/10.1111/pce.13730
⁵ Hempler, K., et al. (2024). Daylength-dependent transcriptome analysis reveals the role of the red to far-red light ratio in regulating floral initiation in Cannabis sativa. bioRxiv. https://doi.org/10.1101/2024.03.28.587211