Der Lebenszyklus von Cannabis – Von der Keimung zur Seneszenz

Einleitung: Die Reise einer einjährigen Pflanze

Nachdem wir uns in Kapitel 3 intensiv mit der botanischen Einordnung und der faszinierenden Vielfalt von Cannabis sativa L. beschäftigt haben, wenden wir uns nun dem dynamischen Prozess des Lebens selbst zu: dem Lebenszyklus unserer Pflanze. Wie wir wissen, ist Cannabis in der Regel eine einjährige (annuelle) Pflanze. Das bedeutet, sie vollendet ihre gesamte Entwicklung – von der Aktivierung des winzigen Embryos im Samen bis hin zur Produktion der nächsten Samen-Generation (wenn sie bestäubt wird) und dem anschließenden natürlichen Verfall (Seneszenz) – innerhalb einer einzigen Vegetationsperiode. Dieser Weg ist eine faszinierende Reise durch klar unterscheidbare Phasen, jede mit ihren eigenen physiologischen Prozessen, spezifischen Bedürfnissen an die Umwelt und sichtbaren Merkmalen.

Für uns als Grower ist das Verständnis dieser Phasen absolut entscheidend. Nur wenn wir wissen, in welcher Entwicklungsstufe sich unsere Pflanze gerade befindet, können wir ihre Bedürfnisse optimal erfüllen – sei es bei der Lichtmenge und -dauer, der Temperatur, der Luftfeuchtigkeit, der Nährstoffzusammensetzung oder der Wasserversorgung. Wir müssen lernen, die Signale der Pflanze im Kontext ihres Lebensabschnitts zu deuten. Die Auslöser für den Übergang zwischen den Phasen sind teils genetisch programmiert (wie bei Autoflowering-Sorten) und teils durch Umweltfaktoren gesteuert, allen voran die Lichtperiode (Photoperiode) bei den meisten Sorten.

Dieses Kapitel gibt einen detaillierten Überblick über die einzelnen Stationen dieser Lebensreise. Wir betrachten die Schlüsselereignisse und grundlegenden Anforderungen jeder Phase. Die spezifischen Anbautechniken und das detaillierte Management für jede Phase werden dann später, in Teil 9 dieses Guides, ausführlich behandelt. Hier legen wir erst einmal das biologische Fundament für das Verständnis des gesamten Zyklus.

Phase 1: Die Keimung (Germination) – Das Erwachen des Lebens

Alles beginnt mit einem kleinen, unscheinbaren Samen (botanisch: eine Achäne), der den Embryo der nächsten Generation in einem Ruhezustand (Dormanz) enthält. Die Keimung ist der Prozess, bei dem dieser Embryo aus seinem Schlaf erwacht und zu wachsen beginnt. Es ist ein magischer Moment, der den Startschuss für unseren Grow gibt.

Was braucht ein Samen zum Keimen? Die Trigger

Damit der Samen keimt, müssen bestimmte Umweltbedingungen erfüllt sein, die ihm signalisieren: “Die Zeit ist reif, das Leben kann beginnen!” Die wichtigsten Faktoren sind:

  1. Wasser (Feuchtigkeit): Absolut essentiell! Der trockene Samen muss Wasser aufnehmen (Imbibition). Dadurch quillt er auf, die Samenschale wird weicher, und Stoffwechselprozesse im Embryo werden aktiviert. Das Wasser löst Enzyme, die die gespeicherten Nährstoffe (im Endosperm und den Keimblättern) mobilisieren. Wichtig: Der Samen braucht Feuchtigkeit, darf aber nicht in sauerstoffarmem Wasser “ertrinken”. Eine gleichmäßige, moderate Feuchte ist ideal.
  2. Sauerstoff (O₂): Auch der ruhende Embryo atmet, und sobald die Stoffwechselprozesse starten, steigt der Sauerstoffbedarf für die Zellatmung und Energiegewinnung rapide an. Ein gut belüftetes Keimmedium ist daher wichtig. Zu nasses, verdichtetes Substrat kann zu Sauerstoffmangel führen und die Keimung verhindern oder den Keimling ersticken lassen.
  3. Wärme: Die Keimung ist ein enzymatischer Prozess, und Enzyme arbeiten nur in einem bestimmten Temperaturbereich optimal. Für Cannabis liegt die ideale Keimtemperatur meist zwischen 22°C und 26°C. Deutlich niedrigere Temperaturen (<18-20°C) verlangsamen oder verhindern die Keimung, zu hohe Temperaturen (>30°C) können den Embryo schädigen oder das Wachstum von Pathogenen fördern. Eine konstante, moderate Wärme ist also förderlich.
  4. Dunkelheit (Initial): Obwohl Licht für die spätere Photosynthese unerlässlich ist, benötigen die meisten Samen für den eigentlichen Keimvorgang (das Austreten der Wurzel) Dunkelheit. Die Wurzel wächst naturgemäß zuerst in den dunklen Boden. Erst wenn der Spross die Oberfläche erreicht, wird Licht zum entscheidenden Faktor.

Der Keimprozess – Schritt für Schritt

Was passiert genau, wenn der Samen erwacht?

  1. Imbibition: Der trockene Samen nimmt Wasser auf, quillt.
  2. Aktivierung: Enzyme werden aktiv, gespeicherte Nährstoffe (Fette, Stärke, Proteine) werden abgebaut und mobilisiert, um dem Embryo Energie zu liefern. Die Zellatmung nimmt zu.
  3. Wurzel-Emergenz: Die Radicula, die im Embryo angelegte Keimwurzel, durchbricht als erstes die aufgeweichte Samenschale. Sie folgt der Schwerkraft (positiver Gravitropismus) und wächst nach unten in das Keimmedium, um Wasser aufzunehmen und die Pflanze zu verankern. Dies ist der sichtbare Beginn der Keimung!
  4. Spross-Emergenz: Kurz nach der Wurzel beginnt das Hypokotyl (der Abschnitt des Keimstängels unterhalb der Keimblätter) zu wachsen. Es bildet oft einen Haken (Hypokotylhaken) und schiebt sich durch das Substrat nach oben, wobei es die Keimblätter und die noch anhaftende Samenschale mitzieht. Dabei orientiert es sich weg vom Licht (negativer Phototropismus, solange es unter der Erde ist) und entgegen der Schwerkraft (negativer Gravitropismus).
  5. Entfaltung der Keimblätter: Sobald das Hypokotyl das Licht erreicht, richtet es sich auf (gesteuert durch Lichtrezeptoren), der Haken streckt sich, und die beiden Keimblätter (Cotyledonen) entfalten sich. Oft hängt die Samenschale noch eine Weile an ihnen fest und fällt dann ab. Die Keimung ist abgeschlossen, die Sämlingsphase beginnt.

Samenqualität und Lagerung

Nicht jeder Samen keimt. Die Keimfähigkeit hängt vom Alter, den Lagerbedingungen und der Genetik ab. Frische Samen von guter Qualität haben die höchste Keimrate. Für die Lagerung gilt: Kühl, dunkel und trocken! Am besten in einem luftdichten Behälter (z.B. mit Silikagel-Tütchen gegen Feuchtigkeit) im Kühlschrank. So können Samen über Jahre keimfähig bleiben.

Die Keimung dauert bei Cannabis unter optimalen Bedingungen meist 3 bis 7 Tage, manchmal auch bis zu 10 Tage oder länger, wenn die Samen älter sind oder die Bedingungen nicht ideal. Geduld ist hier gefragt!

(Ziel der Keimungsphase: Erfolgreiche Aktivierung des Embryos und Etablierung der Keimwurzel sowie der Keimblätter.)

Phase 2: Die Sämlingsphase (Seedling Stage) – Verletzliche Kindheit

Sobald sich die Keimblätter entfaltet haben und das erste Paar echter Blätter sichtbar wird, beginnt die Sämlingsphase. Dies ist die “Kindheit” der Pflanze – eine Zeit des ersten Wachstums, aber auch extremer Verletzlichkeit. Diese Phase dauert typischerweise 1 bis 3 Wochen, bis die Pflanze mehrere Sätze echter Blätter entwickelt hat und ein stabileres Wurzelsystem etabliert ist.

Merkmale der Sämlingsphase:

  • Cotyledonen (Keimblätter): Die ersten beiden Blättchen sind meist glatt, oval oder leicht herzförmig und unterscheiden sich deutlich von den späteren Cannabisblättern. Sie liefern anfangs Nährstoffe und betreiben Photosynthese, bis die echten Blätter übernehmen. Danach werden sie oft gelb und fallen ab.
  • Erste Echte Blätter: Kurz nach den Keimblättern erscheint das erste Paar echter Laubblätter. Diese sind noch klein und haben oft nur einen einzigen Blattfinger mit dem typisch gesägten Rand. Das nächste Blattpaar hat dann meist drei Finger, das übernächste fünf, dann sieben usw., bis die für die Sorte typische Fingeranzahl erreicht ist.
  • Hypokotyl: Der Stängelabschnitt zwischen den Wurzeln und den Keimblättern. Er ist anfangs oft noch dünn und kann bei Lichtmangel lang und instabil werden (“Spargeln”).
  • Wurzelentwicklung: Unter der Oberfläche beginnt die Keimwurzel sich zu verzweigen und ein erstes kleines, aber feines Wurzelsystem zu bilden.

Warum Sämlinge so empfindlich sind:

Die hohe Verletzlichkeit in dieser Phase hat mehrere Gründe:

  • Geringe Energiereserven: Die Vorräte aus dem Samen sind begrenzt. Die Pflanze muss schnell eine effiziente Photosynthese etablieren.
  • Unterentwickeltes Wurzelsystem: Die wenigen feinen Wurzeln sind sehr anfällig für Austrocknung, aber auch für Staunässe (Sauerstoffmangel!). Die Nährstoffaufnahme ist noch gering.
  • Dünne Kutikula: Die schützende Wachsschicht auf den jungen Blättern ist noch nicht voll ausgeprägt, was zu hoher Wasserverdunstung führt.
  • Krankheitsanfälligkeit: Sämlinge sind besonders anfällig für die “Umfallkrankheit” (Damping-off), verursacht durch Pilze (wie Pythium, Fusarium, Rhizoctonia) im Substrat, die den Stängelgrund befallen und zum Abknicken führen – oft bei zu hoher Feuchtigkeit und schlechter Belüftung.

Optimale Bedingungen für Sämlinge: Die Kinderstube

Um unseren kleinen Schützlingen den besten Start zu ermöglichen, brauchen sie eine Art “behütete Kinderstube”:

  • Hohe Luftfeuchtigkeit: Ideal sind 70-80% relative Luftfeuchtigkeit (RH). Dies reduziert den Wasserverlust über die Blätter und entlastet das junge Wurzelsystem. Ein kleines Zimmergewächshaus oder eine transparente Abdeckung über den Töpfen hilft enorm, dieses Klima zu halten. Regelmäßiges Lüften ist aber wichtig, um Schimmel vorzubeugen!
  • Stabile Wärme: Temperaturen um 20-25°C sind optimal. Zu kalt verlangsamt das Wachstum, zu heiß stresst die Pflanze. Eine Heizmatte unter dem Gewächshaus kann hier Wunder wirken, besonders wenn der Growraum eher kühl ist (siehe Kapitel 4 zur Anzucht & Wachstumsmedium).
  • Sanftes Licht: Sämlinge brauchen Licht für die Photosynthese, aber keine volle Intensität! Zu starkes Licht kann die zarten Blätter verbrennen oder austrocknen. Ideal sind:
    • Leuchtstoffröhren (LSR/T5) oder spezielle LED-Anzuchtlampen mit geringer Leistung in kurzem Abstand (wenige Zentimeter).
    • Gedimmte, hochwertige LEDs in größerem Abstand (Herstellerangaben beachten!).
    • Sonnenlicht: Nur indirektes Licht oder wenige Stunden sanfte Morgen-/Abendsonne. Volle Mittagssonne ist oft zu intensiv. Der Lichtzyklus sollte 18 Stunden Licht / 6 Stunden Dunkelheit (18/6) betragen.
  • Vorsichtiges Gießen: Das Substrat sollte gleichmäßig feucht, aber niemals nass sein! Staunässe ist der größte Feind! Am besten mit einer Sprühflasche oder Pipette gezielt um den Stängel herum wässern und erst wieder gießen, wenn die Oberfläche leicht abgetrocknet ist. Lauwarmes Wasser verwenden.
  • Luftiges Substrat: Eine spezielle Anzuchterde oder ein lockeres Coco-Substrat sind ideal. Sie sind nährstoffarm (Sämlinge brauchen anfangs kaum zusätzliche Nährstoffe) und gut durchlüftet.
  • Gute Luftzirkulation: Sanfte Luftbewegung (kein direkter, starker Luftstrom!) im Gewächshaus oder Anzuchtraum hilft, Pilzbefall vorzubeugen und die Stängel zu kräftigen.

(Ziel der Sämlingsphase: Erfolgreiche Etablierung der ersten echten Blätter und eines funktionierenden Wurzelsystems, Vorbereitung auf das vegetative Wachstum.)

Phase 3: Die Wachstumsphase (Vegetative Stage) – Kraft sammeln & Struktur bauen

Nachdem der Sämling die ersten echten Blätter etabliert und sein kleines Wurzelsystem gefestigt hat, beginnt die vegetative Phase oder Wachstumsphase. Dies ist die Zeit des Jugendwachstums, vergleichbar mit der Kindheit und Jugend beim Menschen, in der die Pflanze rasant an Größe und Biomasse zulegt, aber noch keine Blüten bildet. Sie sammelt Kraft, baut ihre Struktur auf und bereitet sich auf die spätere, energieintensive Fortpflanzungsphase (Blüte) vor.

Auslöser und Dauer: Bei den meisten Cannabis-Sorten (photoperiodische Strains) wird die vegetative Phase durch lange Tage und kurze Nächte aufrechterhalten. Solange die tägliche Lichtperiode etwa 14-16 Stunden oder mehr beträgt (und die ununterbrochene Dunkelphase entsprechend kurz ist), bleibt die Pflanze im vegetativen Modus. Indoor simulieren wir dies typischerweise mit einem 18/6-Lichtzyklus (18 Stunden Licht, 6 Stunden Dunkelheit). Die Dauer dieser Phase ist bei photoperiodischen Sorten theoretisch unbegrenzt und wird vom Grower bestimmt – sie kann von nur 2-3 Wochen (z.B. für SOG) bis zu mehreren Monaten (für große Pflanzen oder Mutterpflanzen) reichen. Bei Autoflowering-Sorten hingegen ist die Dauer der vegetativen Phase genetisch festgelegt und kurz, meist nur 2 bis 4 Wochen, unabhängig vom Lichtzyklus. Danach leiten sie die Blüte automatisch ein.

Die Ziele der vegetativen Phase – Was die Pflanze jetzt tut:

In dieser Phase konzentriert sich die Pflanze voll auf den Aufbau ihres “Körpers”:

  1. Aufbau eines starken Wurzelsystems: Die Wurzeln wachsen schnell, durchdringen das Substrat, verzweigen sich immer feiner und bilden ein dichtes Netzwerk. Ein großes, gesundes (weißes, festes) Wurzelsystem ist die absolute Grundlage für eine ertragreiche Pflanze. Es sorgt für:
    • Stabile Verankerung im Substrat.
    • Effiziente Aufnahme von Wasser und den jetzt vermehrt benötigten Nährstoffen.
    • Produktion von Pflanzenhormonen (z.B. Cytokininen), die das oberirdische Wachstum fördern.
    • Speicherung von Reservestoffen. Das Management des Wurzelraums (Topfgröße, Umtopfen) ist in dieser Phase entscheidend (Details in Teil 8).
  2. Entwicklung einer robusten Sprossstruktur: Der Hauptstamm wird dicker (durch sekundäres Dickenwachstum des Kambiums, siehe Kapitel 3a), Seitentriebe entwickeln sich aus den Achselknospen an den Nodien. Die Pflanze baut ihr tragendes Gerüst auf, das später das Gewicht der Blätter und schweren Blüten tragen muss. Die Struktur (buschig vs. hoch, viele vs. wenige Seitentriebe) wird stark von der Genetik (Indica/Sativa-Prägung) und von unseren Trainingstechniken beeinflusst.
  3. Maximierung der Blattfläche (Photosynthese): Die Pflanze produziert zahlreiche Laubblätter (Sonnensegel). Ziel ist es, eine möglichst große Oberfläche zur Lichtabsorption zu schaffen, um die Photosyntheserate zu maximieren. Die Blätter richten sich optimal zum Licht aus. Ein dichtes, gesundes Blätterdach (Canopy) ist die Voraussetzung für hohe Energieproduktion. Man spricht hier auch vom Blattflächenindex (LAI) – dem Verhältnis der gesamten Blattfläche zur darunterliegenden Bodenfläche. Ein optimaler LAI sorgt für maximale Lichtausnutzung.
  4. Speicherung von Energie: Der durch Photosynthese produzierte Zucker wird nicht nur für das aktuelle Wachstum verwendet, sondern auch in Form von Stärke oder anderen Kohlenhydraten in Wurzeln, Stamm und Blättern gespeichert. Diese Energiereserven sind entscheidend für den energiezehrenden Prozess der Blütenbildung.

Physiologische Prozesse im vegetativen Stadium:

Hinter dem sichtbaren Wachstum stecken intensive physiologische Prozesse:

  • Zellteilung & -streckung: In den Meristemen (Teilungsgeweben) an den Spross- und Wurzelspitzen sowie im Kambium und den Achselknospen finden rasante Zellteilungen (Mitose) statt. Anschließend strecken sich die Zellen durch Wasseraufnahme in die Vakuole und Einlagerung von Zellwandmaterial. Gesteuert wird dies durch ein komplexes Zusammenspiel von Pflanzenhormonen:
    • Auxine (v.a. im Sprossgipfel gebildet): Fördern Zellstreckung, Apikaldominanz (unterdrücken Seitenknospen), Wurzelbildung.
    • Cytokinine (v.a. in Wurzelspitzen gebildet): Fördern Zellteilung, Austrieb von Seitenknospen (wirken Auxinen entgegen), verhindern Blattalterung.
    • Gibberelline: Fördern ebenfalls Zellstreckung (Internodienlänge) und Samenkeimung. Das Verhältnis dieser Hormone zueinander steuert maßgeblich die Wuchsform.
  • Hohe Photosyntheserate: Das “Gaspedal” ist durchgedrückt. Die Pflanze wandelt Licht, CO₂ und Wasser mit hoher Effizienz in Zucker um. Dafür benötigt sie:
    • Viel Licht der richtigen Qualität (siehe unten).
    • Ausreichend CO₂ (in normaler Raumluft meist genug, aber gute Lüftung ist wichtig!).
    • Konstante Wasserversorgung.
    • Ausreichend Nährstoffe, insbesondere Stickstoff (N) für den Aufbau von Chlorophyll, Proteinen (Enzymen!) und Nukleinsäuren (DNA/RNA).
  • Hohe Nährstoffaufnahme: Das expandierende Wurzelsystem nimmt aktiv Mineralstoffe aus dem Substrat auf. Ein optimaler pH-Wert im Wurzelbereich ist entscheidend, damit die Nährstoffe auch pflanzenverfügbar sind (Details in Teil 7).
  • Hohe Transpirationsrate: Durch die große Blattfläche und die offenen Spaltöffnungen (für CO₂-Aufnahme) verdunstet die Pflanze viel Wasser (Transpiration). Dieser Wasserstrom durch die Pflanze (angetrieben durch den Sog aus den Blättern) ist notwendig für den Transport von Mineralstoffen von der Wurzel nach oben und für die Kühlung der Blätter. Dies erfordert eine konstante Wasserzufuhr. Die Transpirationsrate wird stark vom VPD (Dampfdruckdefizit) beeinflusst (Details in Teil 5).

Optimale Umweltbedingungen für vegetatives Wachstum:

Um diese Prozesse zu unterstützen, sollten wir versuchen, folgende Bedingungen zu schaffen:

  • Licht:
    • Zyklus: 18 Stunden Licht / 6 Stunden Dunkelheit (18/6) ist der Goldstandard für photoperiodische Sorten. Längere Lichtphasen (20/4, 24/0) sind möglich, bringen aber oft nur geringe Vorteile bei höherem Stromverbrauch und können manche Sorten stressen. Die 6 Stunden Dunkelheit sind wichtig für bestimmte Stoffwechselprozesse. Die Länge der Nacht ist das Signal: Solange sie kurz genug ist (unter ca. 10-12 Stunden), verhindert das Phytochrom-System (ein Lichtrezeptor in der Pflanze) die Blüteinduktion.
    • Intensität: Hoch, aber nicht übertrieben. PPFD-Werte von 300-600 µmol/m²/s sind ein guter Richtwert für die vegetative Phase.
    • Spektrum: Vollspektrum-LEDs sind ideal. Ein ausreichender Blauanteil fördert kompakten Wuchs und starke Verzweigung. Traditionell wurden auch Metallhalogenlampen (MH) mit hohem Blauanteil gerne für die Veg-Phase genutzt.
  • Temperatur: Optimal sind meist 22-28°C während der Lichtphase. In der Dunkelphase sollte es etwas kühler sein (18-22°C), aber starke Schwankungen sind zu vermeiden.
  • Luftfeuchtigkeit (RH): Etwas niedriger als für Sämlinge. Ein Bereich von 50-70% RH ist oft ideal. Dies fördert gesunde Transpiration, ohne das Risiko von Pilzkrankheiten zu stark zu erhöhen. Der VPD sollte im optimalen Bereich für vegetatives Wachstum liegen (ca. 0.8-1.2 kPa).
  • Luftbewegung & Frischluft: Essentiell! Eine gute Umluft im Zelt verhindert stehende, feuchte Luft und kräftigt die Stiele (Thigmomorphogenese). Eine hohe Luftaustauschrate durch die Abluftanlage sorgt für konstanten CO₂-Nachschub an den Blättern und transportiert Wärme und Feuchtigkeit ab.
  • Wasser & Nährstoffe: Der Wasserbedarf steigt mit der Pflanzengröße deutlich an. Gegossen wird, wenn der Topf spürbar leichter wird. Das Substrat sollte zwischen den Gießvorgängen leicht antrocknen können, aber nie völlig austrocknen. Die Nährlösung sollte jetzt stickstoffbetont sein (höherer N-Wert im N-P-K Verhältnis), um das Blatt- und Stängelwachstum zu fördern. Der EC-Wert wird entsprechend dem Bedarf der Pflanze und der Reaktion der Blätter schrittweise erhöht. Der pH-Wert muss weiterhin regelmäßig kontrolliert und angepasst werden!
  • Substrat & Topfgröße: Das Substrat muss ausreichend Nährstoffe liefern (bei vorgedüngter Erde) oder als Basis für die Flüssigdüngung dienen. Es muss gut durchlüftet sein und eine gute Drainage bieten. Wichtig ist, den Wurzeln genügend Platz zu geben. Progressives Umtopfen in immer größere Behälter (z.B. von 1L auf 5L auf 11L oder unseren angestrebten 18L+ Endtopf) fördert ein dichtes, gesundes Wurzelsystem.

Typische Arbeiten in der vegetativen Phase:

Diese Phase ist ideal für viele gärtnerische Eingriffe (Details in Teil 9):

  • Umtopfen: Sobald der aktuelle Topf gut durchwurzelt ist.
  • Training: Jetzt ist die Zeit für Low-Stress-Training (LST), Topping, Fimming, Main-Lining oder das Einleiten eines Screen of Green (ScrOG), um die Pflanzenstruktur zu formen, die Höhe zu kontrollieren und die spätere Blütenbildung zu optimieren.
  • Klonen: Stecklinge werden von Mutterpflanzen geschnitten, die im vegetativen Stadium gehalten werden.
  • Monitoring: Regelmäßige Kontrolle auf Schädlinge, Krankheiten und Nährstoffprobleme. Anpassung von Düngung und Umweltparametern.

(Ziel der Wachstumsphase: Aufbau einer maximal großen, gesunden und strukturell optimierten Pflanze als Grundlage für eine reiche Blüte.)

Phase 4: Die Vorblüte (Pre-Flowering) – Zeichen der Reife

Gegen Ende der vegetativen Phase, meist wenn die Pflanze 3 bis 6 Wochen alt ist (je nach Genetik und Bedingungen), erreicht sie die sexuelle Reife. Selbst unter 18/6-Lichtbedingungen beginnt sie dann oft, an den oberen Nodien (den Verzweigungspunkten zwischen Hauptstamm und Seitentrieben/Blattstielen) winzige Vorblüten zu zeigen. Diese sind die ersten sichtbaren Anzeichen des Geschlechts.

  • Identifikation der Vorblüten: Man muss genau hinschauen!
    • Weiblich: Das erste Anzeichen ist meist ein kleiner, oft spitz zulaufender Blütenkelch (Calyx), der von einem noch kleineren Deckblatt (Braktee) umhüllt wird. Aus der Spitze dieses Kelches ragen bald zwei feine, meist weiße Härchen – die Narben oder Stempel (Pistillen), oft in V-Form. Wenn man das sieht, hat man sicher ein Weibchen!
    • Männlich: Hier bilden sich kleine, gestielte Kügelchen, die anfangs wie winzige grüne Erbsen oder Trauben aussehen. Dies sind die Pollensäcke (Stamina). Sie enthalten keine hervorstehenden Härchen. Später schwellen sie an, öffnen sich und entlassen den gelblichen Pollenstaub.
    • Zwittrig (Hermaphrodit): Im seltenen Fall erscheinen an derselben Pflanze (manchmal sogar am selben Nodium) sowohl männliche Pollensäcke als auch weibliche Blütenkelche mit Narben. Dies kann genetisch bedingt sein oder durch Stress ausgelöst werden.
  • Bedeutung der Vorblüte:
    • Geschlechtsbestimmung: Für Grower, die mit regulärem Saatgut arbeiten (nicht feminisiert), ist dies der Moment der Wahrheit. Männliche Pflanzen müssen sofort entfernt werden, sobald sie sicher identifiziert sind, um eine Bestäubung der Weibchen und damit eine samenreiche, qualitativ minderwertige Ernte (kein Sinsemilla!) zu verhindern.
    • Reifeindikator: Die Vorblüten zeigen an, dass die Pflanze nun physiologisch bereit ist zu blühen, sobald der Lichtzyklus entsprechend geändert wird (oder bei Autos, sobald ihre innere Uhr es befiehlt).
  • Wichtiger Hinweis: Das Erscheinen von Vorblüten unter 18/6 Licht bedeutet bei photoperiodischen Sorten nicht, dass die Pflanze von selbst zu blühen beginnt! Sie bleibt vegetativ, solange die Nächte kurz sind. Erst die Umstellung auf 12/12 gibt das eigentliche Signal zur Einleitung der Blütephase.

(Ziel der Vorblüte: Erreichen der sexuellen Reife und Ermöglichen der Geschlechtsbestimmung.)

Phase 5: Die Blütephase (Flowering Stage) – Die große Verwandlung

Nach der Phase des strukturellen Aufbaus (vegetatives Wachstum) und dem Erreichen der sexuellen Reife (Vorblüte) ist die Cannabispflanze bereit für den nächsten großen Schritt in ihrem Lebenszyklus: die Fortpflanzung, manifestiert durch die Blütephase. Für uns Grower bedeutet dies die Entwicklung der begehrten weiblichen Blütenstände (Buds). Dieser Übergang ist ein tiefgreifender physiologischer Wandel, ausgelöst durch spezifische Signale und begleitet von veränderten Bedürfnissen der Pflanze. Wir unterteilen die Blütephase zur besseren Übersicht in mehrere Abschnitte; dieser Teil behandelt die Einleitung (Induktion), den Stretch und die frühe bis mittlere Blütenentwicklung.

Auslösung der Blüte (Induktion) – Der entscheidende Schalter

Wie bringen wir unsere Pflanze dazu, vom Wachsen ins Blühen zu wechseln?

  • Photoperiodische Sorten – Die Macht der langen Nacht: Bei den meisten Cannabis-Sorten (Indicas, Sativas, und die meisten Hybriden) ist der Auslöser die Photoperiode, genauer gesagt die Länge der ununterbrochenen Dunkelphase. Cannabis ist eine Kurztagpflanze (oder präziser: Langnachtpflanze). Solange die Nächte kurz sind (unter ca. 10-12 Stunden), unterdrückt die Pflanze die Blüte und bleibt vegetativ. Wird die Dunkelphase jedoch lang genug und bleibt sie ununterbrochen, ist das das Signal für die Umstellung.
    • Das Phytochrom-System: Dieser Mechanismus wird durch ein Lichtrezeptor-Pigment namens Phytochrom gesteuert. Phytochrom existiert in zwei Formen: Pr (absorbiert rotes Licht, ca. 660nm) und Pfr (absorbiert dunkelrotes Licht, ca. 730nm, die biologisch aktive Form). Tageslicht (enthält Rotlicht) wandelt Pr in Pfr um. In der Dunkelheit wandelt sich Pfr langsam wieder in Pr zurück oder wird abgebaut. Ist die Dunkelphase lang genug, sinkt die Konzentration der aktiven Pfr-Form unter einen kritischen Schwellenwert. Dieses Absinken signalisiert der Pflanze “lange Nacht = Herbst naht = Zeit für die Fortpflanzung!” und löst eine komplexe Signalkaskade aus, die zur Blütenbildung führt.
    • Die Bedeutung der Dunkelheit: Deshalb ist die absolute, ununterbrochene Dunkelheit während der 12-stündigen Nachtphase Indoor so extrem wichtig! Schon kurze Lichtblitze (Taschenlampe, Lichtspalt unter der Tür) können Pfr zurückbilden und der Pflanze eine “kurze Nacht” vorgaukeln, was die Blüte verzögern, unterbrechen oder die Pflanze stressen und zu Zwittrigkeit (Hermaphroditismus) führen kann!
    • Der Standard-Trigger: Indoor lösen wir die Blüte daher zuverlässig aus, indem wir den Lichtzyklus von 18/6 auf 12/12 umstellen (12 Stunden Licht, 12 Stunden Dunkelheit). Manche Grower experimentieren später in der Blüte mit leicht verkürzten Lichtphasen (11/13, 10/14), um die Reifung zu beschleunigen, aber der 12/12-Wechsel ist der etablierte Standard zur Einleitung.
  • Autoflowering Sorten – Der interne Zeitplan: Wie zuvor besprochen, benötigen Autoflowers diesen externen Trigger nicht. Ihre Blüte wird durch einen internen, genetisch festgelegten Mechanismus ausgelöst, typischerweise wenn die Pflanze ein Alter von ca. 2-4 Wochen erreicht hat[^8]. Sie blühen unter 18/6, 20/4 oder sogar 24/0 Licht weiter.
  • Hormonelle Umstellung: Der Photoperioden- oder Alters-Trigger löst eine komplexe hormonelle Umstellung in der Pflanze aus. Die Produktion von Wachstumshormonen wie Auxinen und Gibberellinen wird heruntergefahren, während Blühhormone (wie das postulierte “Florigen”, das wahrscheinlich durch das FT-Protein repräsentiert wird) und andere Stoffe (z.B. Phytohormone aus der Jasmonat- oder Salicylsäure-Gruppe) die Differenzierung von vegetativen Knospen zu Blütenknospen anstoßen.

Der “Stretch” – Der letzte große Wachstumsschub (Frühe Blüte, Woche 1-3)

Direkt nach der Umstellung auf 12/12 (oder dem Beginn der Auto-Blüte) erleben viele Grower eine Überraschung: Die Pflanze hört nicht sofort auf zu wachsen, im Gegenteil! Sie legt oft noch einen kräftigen Wachstumsschub hin, der als “Stretch” bezeichnet wird. Diese Phase dauert typischerweise 1 bis 3 Wochen.

  • Das Ausmaß: Wie stark dieser Stretch ausfällt, ist stark genetisch (sortenabhängig):
    • Indica-dominant: Oft nur geringer Stretch, vielleicht 25-50% Höhenzunahme.
    • Hybriden: Variabel, oft 50-150% Höhenzunahme.
    • Sativa-dominant/Haze: Kann extrem sein, mit einer Verdopplung oder Verdreifachung (200-300%) der Pflanzenhöhe!
  • Der Sinn dahinter: Evolutionär betrachtet macht dieser letzte Schub Sinn. Die Pflanze versucht, ihre zukünftigen Blütenstände optimal zu positionieren, um möglichst viel Licht für die energieintensive Blüten- und Samenproduktion zu bekommen und (bei Windbestäubung) den Pollenflug bzw. den Pollenfang zu maximieren. Sie investiert die letzten Reserven und die noch hohe Wuchsenergie in dieses Streckungswachstum, bevor sie dann voll auf Blütenproduktion umschaltet. Hormonell spielen hier vermutlich noch einmal Gibberelline eine wichtige Rolle.
  • Management ist Alles! Dieser Stretch muss unbedingt in der Planung berücksichtigt werden! Wer eine stark stretchende Sativa in einem niedrigen Zelt anbaut und erst kurz vor der Blüte umstellt, wird massive Probleme mit der Höhe bekommen (Pflanzen wachsen ins Licht -> Verbrennungen). Hier zeigt sich der Wert des Wissens um Indica/Sativa-Wachstumstypen (Kapitel 5)!
    • Platz einplanen: Lasst genügend Luft nach oben! Faustregel: Die Pflanze sollte bei Blüteeinleitung etwa 1/2 (Indica) bis 1/3 (Sativa) ihrer final gewünschten Endhöhe erreicht haben.
    • Training: Techniken wie LST, Topping oder Supercropping sollten idealerweise vor der Blüteeinleitung abgeschlossen sein. Ein ScrOG-Netz ist hervorragend geeignet, um den Stretch zu kontrollieren und die Triebe horizontal zu verteilen. Sanftes LST ist auch während des Stretches noch möglich.

Entwicklung der Blütenstände (Frühe bis mittlere Blüte, Woche ~2-6)

Während und nach dem Stretch beginnt die eigentliche Magie – die Bildung der Blütenstände (Buds):

  • Erste Blütenansätze: An den Nodien und Triebspitzen, wo vorher neue Blätter wuchsen, erscheinen nun dichte Ansammlungen von weißen Fäden (Pistillen/Narben). Dies sind die ersten sichtbaren weiblichen Blüten.
  • Calyx-Entwicklung: Die eigentliche weibliche Blüte besteht hauptsächlich aus dem Blütenkelch (Calyx), einer kleinen, oft tränenförmigen Struktur, die die Samenanlage umschließt und aus der die beiden Narben herausragen. Diese Calyxe beginnen sich nun zu vermehren und anzuschwellen. Sie bilden die Hauptmasse des späteren Buds. Botanisch korrekter wäre oft der Begriff Deckblatt (Braktee), da dieses den eigentlichen Fruchtknoten umschließt, aber im Grower-Jargon hat sich “Calyx” eingebürgert.
  • Pistillen-Wachstum: Die weißen Narben (Pistillen) wachsen und strecken sich aus den Calyxen heraus, bereit, Pollen aus der Luft einzufangen (was wir natürlich verhindern wollen!). Ihre Dichte und Länge nimmt zu.
  • Trichom-Produktion beginnt: Jetzt startet die Pflanze mit der intensiven Produktion der Trichome – der winzigen Harzdrüsen, die wie kleine Pilze mit Stiel und Kopf aussehen (die kapitat-gestielten Trichome sind die wichtigsten). Sie erscheinen zuerst auf den kleinen Blättern, die direkt aus den Blütenansätzen wachsen (Zuckerblätter/Sugar Leaves) und später auch dicht auf den Calyxen selbst. Anfangs sind die Köpfe dieser Trichome klein und klar/durchsichtig. In ihnen findet die Synthese der Cannabinoide und Terpene statt – die Fabriken für unsere gewünschten Inhaltsstoffe laufen an! Forschungen deuten darauf hin, dass die Dichte und Entwicklung dieser Drüsenhaare auch geschlechtsspezifisch sein kann[^14].
  • Bud-Struktur formt sich: Die einzelnen Blütenansätze (Calyx-Cluster) an den Nodien und Triebspitzen wachsen zusammen, werden dichter und bilden die charakteristische Struktur der Blütenstände (Buds oder Colas). Jetzt werden auch die Unterschiede zwischen den Sortentypen deutlich:
    • Indica-Typen bilden oft sehr dichte, feste, runde oder konische Buds.
    • Sativa-Typen bilden häufig luftigere, länglichere, manchmal “fuchsschwanzartige” (Foxtail) Blütenstände.
    • Hybriden liegen irgendwo dazwischen.

Umwelt- & Nährstoffbedarf in der frühen bis mittleren Blüte

Die Umstellung auf Blüte bedeutet auch eine Umstellung der Bedürfnisse:

  • Licht: Der 12/12-Zyklus muss bei photoperiodischen Sorten strikt eingehalten werden! Hohe Lichtintensität (PPFD im Bereich 600-1000 µmol/m²/s, manche gehen sogar höher) ist jetzt entscheidend, um die energieintensive Blütenproduktion zu befeuern. Ein höherer Rot- und Fernrot-Anteil im Lichtspektrum kann die Blütenbildung zusätzlich fördern.
  • Temperatur: Ähnlich wie in der späten Veg-Phase, oft 20-26°C während der Lichtphase. Eine leichte Nachtabsenkung (auf ca. 18-20°C) ist weiterhin förderlich, aber große Schwankungen vermeiden. Manche Sorten reagieren auf kühlere Temperaturen gegen Ende der Blüte mit schöner Farbgebung (Anthocyane).
  • Luftfeuchtigkeit (RH): Kritischer Faktor! Die RH muss nun schrittweise gesenkt werden, um das Risiko von Blütenfäule (Botrytis) zu minimieren. Ideal sind Werte zwischen 40% und maximal 55% RH. Ein höherer VPD (Dampfdruckdefizit) von ca. 1.0-1.5 kPa ist in dieser Phase oft optimal, da er die Transpiration fördert (was Nährstofftransport unterstützt) und gleichzeitig das Mikroklima an den dichten Blüten trockener hält. Ein guter Luftentfeuchter ist oft unerlässlich!
  • Luftbewegung & Frischluft: Noch wichtiger als in der Veg-Phase! Starke, aber indirekte Umluft muss die Luft zwischen und durch die sich entwickelnden Buds bewegen, um Feuchtigkeitsnester zu verhindern. Ein hoher Luftaustausch durch die Abluftanlage ist Pflicht, um Feuchtigkeit abzutransportieren und CO₂ nachzuliefern.
  • Wasser & Nährstoffe: Der Wasserbedarf kann während des Stretches noch hoch sein, sinkt danach aber oft leicht ab, da weniger Blattmasse gebildet wird. Dennoch brauchen die Blüten viel Wasser. Weiterhin gilt: Nicht überwässern, gute Drainage sicherstellen! Entscheidend ist die Umstellung der Nährstoffzusammensetzung:
    • Weniger Stickstoff (N): Zu viel N in der Blüte verzögert die Reifung, fördert Blattwachstum auf Kosten der Blüten und kann den Geschmack negativ beeinflussen.
    • Mehr Phosphor (P) & Kalium (K): Diese beiden Makronährstoffe sind jetzt entscheidend. Phosphor ist zentral für den Energietransport (ATP), die DNA/RNA-Synthese und die Blütenbildung. Kalium reguliert den Wasserhaushalt (Turgor, Stomata), aktiviert Enzyme und ist wichtig für die Zuckerproduktion und -einlagerung, was zu dichteren, schwereren Buds führt. Man verwendet jetzt also spezielle “Bloom”-Dünger mit niedrigem N- und hohem P-K-Wert. Der EC-Wert der Nährlösung erreicht oft in der mittleren Blütephase seinen Höhepunkt. CalMag ist unter starkem Licht (besonders LED) weiterhin wichtig. Regelmäßige pH-Kontrolle bleibt Pflicht!

Typische Arbeiten in der frühen bis mittleren Blüte:

  • Stützen: Sobald die Buds an Gewicht zunehmen, müssen Triebe eventuell mit Stäben, Jojos oder Netzen gestützt werden, um ein Abknicken zu verhindern. Ein vorher installiertes ScroG-Netz dient jetzt primär als Stütze.
  • Strategische Entlaubung (Defoliation): Manche erfahrenen Grower entfernen vorsichtig einzelne große Fächerblätter, die tief liegende Bud-Ansätze stark beschatten, um die Lichtpenetration und Luftzirkulation zu verbessern. Dies geschieht meist in den ersten Blütewochen (ca. Woche 1-3). Aber Vorsicht: Zu spätes oder zu starkes Entlauben kann die Pflanze stressen und den Ertrag mindern, da die Blätter die “Kraftwerke” sind! Dies ist eine fortgeschrittene Technik (mehr in Teil 9).
  • Intensives Monitoring: Jetzt ist höchste Wachsamkeit gefragt! Tägliche Kontrolle auf Schädlinge (Spinnmilben lieben die entstehenden Buds!), Krankheiten (insbesondere Botrytis – graue, matschige Stellen sofort entfernen!), Nährstoffprobleme und Umweltstabilität.

Wir haben nun gesehen, wie die Pflanze auf das Blühsignal reagiert, ihren letzten Wachstumsschub hinlegt und mit der eigentlichen Produktion der begehrten Blütenstände und Harzdrüsen beginnt. Die Anforderungen an uns als Grower steigen in dieser Phase nochmals deutlich.

Phase 6 & 7: Späte Blüte, Reife & Seneszenz – Der Höhepunkt & Das Finale (4/4)

Nachdem die Pflanze in der frühen bis mittleren Blütephase ihre Blütenstände angelegt und mit der Harzproduktion begonnen hat, treten wir nun in die entscheidende Endphase ein. Hier geht es nicht mehr um Größenwachstum, sondern um Qualität, Reifung und das Erkennen des perfekten Moments für die Ernte. Abschließend betrachten wir auch das natürliche Ende des Lebenszyklus, die Seneszenz.

Die Späte Blütephase (Woche ~6/7+ bis zur Ernte) – Anschwellen & Reifen

In diesen letzten Wochen vor der Ernte konzentriert die weibliche Cannabispflanze all ihre verbleibende Energie auf die Fortpflanzung – auch wenn wir durch das Fernhalten von Pollen die Samenbildung verhindern. Das äußert sich in folgenden Prozessen:

  • Anschwellen der Calyxe: Die einzelnen Blütenkelche (Calyxe), die die eigentliche Blüte bilden, schwellen oft noch einmal deutlich an. Sie werden praller und drängen sich dichter aneinander. Dies führt dazu, dass die gesamten Blütenstände (Buds) an Dichte und Gewicht zunehmen. Das Längenwachstum der Triebe ist jetzt abgeschlossen.
  • Intensive Harzproduktion: Die Trichom-Produktion läuft auf Hochtouren. Die Dichte der Harzdrüsen auf den Calyxen und kleinen Zuckerblättern nimmt weiter zu, die Blütenstände beginnen oft stark zu glitzern und fühlen sich extrem klebrig an. In diesen Trichomen findet die maximale Synthese von Cannabinoiden (THCA, CBDA etc.) und Terpenen statt. Der charakteristische Geruch der Sorte wird jetzt oft am intensivsten.
  • Veränderung der Pistillen (Narben): Die weißen, hervorstehenden Härchen (Narben/Pistillen), die dem Pollenfang dienen, haben ihre Funktion weitgehend erfüllt (da kein Pollen kommt). Sie hören auf zu wachsen und beginnen sich allmählich zu verfärben. Je nach Sorte und Umweltbedingungen werden sie orange, rötlich, braun oder bernsteinfarben und ziehen sich oft etwas zurück oder welken leicht.
    • Wichtiger Hinweis: Die Verfärbung der Pistillen ist zwar ein Indikator für fortschreitende Reife, aber kein zuverlässiges Kriterium für den optimalen Erntezeitpunkt! Manche Sorten bilden auch in der späten Blüte immer wieder neue weiße Pistillen (“Nachblüte”), während die Trichome schon reif sind. Andere Sorten haben schon früh verfärbte Pistillen, obwohl die Cannabinoid-Produktion noch nicht am Höhepunkt ist. Verlasst euch nie allein auf die Pistillenfarbe!
  • Trichom-Reifung – Der entscheidende Blick durch die Lupe: Der zuverlässigste Indikator für den optimalen Erntezeitpunkt ist der Reifegrad der Harzdrüsenköpfe (Trichome). Ihre Veränderung spiegelt direkt den Zustand der Cannabinoid-Synthese wider. Um dies zu beurteilen, ist ein Mikroskop oder eine starke Lupe (mind. 60-fache Vergrößerung) unerlässlich! Betrachtet die Trichome auf den Blütenkelchen (Calyxen), nicht auf den großen Fächerblättern oder den äußersten Zuckerblättern, da diese oft schneller reifen. Man unterscheidet typischerweise drei Stadien der Trichomköpfe:
    1. Klar/Durchsichtig: Die Trichome sind wie kleine Glaskugeln. Die Cannabinoid-Produktion läuft, aber der THC-Gehalt (bzw. THCA) ist noch nicht maximal. Eine Ernte in diesem Stadium führt oft zu einer weniger potenten, manchmal als “klarer” oder “rastloser” beschriebenen Wirkung. -> Zu früh!
    2. Milchig/Trüb/Wolkig: Die Trichomköpfe verlieren ihre Transparenz und werden undurchsichtig weißlich, wie Milchglas. Dies signalisiert den Höhepunkt der THCA-Produktion. Viele Grower ernten, wenn die überwiegende Mehrheit (ca. 70-90%) der Trichome milchig ist. Dieses Stadium wird oft mit der maximalen psychoaktiven Potenz und einer eher energetisierenden, zerebralen Wirkung (“High”) assoziiert.
    3. Bernsteinfarben/Amber: Die milchigen Trichomköpfe beginnen sich bernsteinfarben oder bräunlich zu verfärben. Dies ist ein Zeichen dafür, dass das THCA beginnt zu oxidieren und zu CBN (Cannabinol) zu zerfallen. CBN ist deutlich weniger psychoaktiv als THC, ihm wird aber eine stärker sedierende, körperlich entspannende (“Couch-Lock”) Wirkung nachgesagt. Ein höherer Anteil an bernsteinfarbenen Trichomen verschiebt die Wirkung also in Richtung “stoned” und schläfrig machend.
  • Das Erntefenster – Timing nach Wunsch: Es gibt nicht DEN einen perfekten Erntetag. Es ist eher ein Zeitfenster von etwa 1-2 Wochen, innerhalb dessen man je nach gewünschtem Effekt ernten kann.
    • Für maximale Potenz & eher “Up-High”: Ernten, wenn fast alle Trichome milchig sind und nur die ersten (ca. 5-10%) beginnen, bernsteinfarben zu werden.
    • Für ausgewogene Wirkung: Ernten, wenn ein guter Mix vorhanden ist, z.B. ca. 70% milchig, 30% bernsteinfarben.
    • Für maximal entspannende/sedierende Wirkung: Ernten, wenn ein signifikanter Anteil (z.B. 50% oder mehr) bernsteinfarben ist (aber nicht zu lange warten, da dann der Gesamt-Cannabinoidgehalt wieder sinken kann). Die genauen Verhältnisse sind Geschmackssache und sortenabhängig. Beobachtet die Entwicklung täglich oder alle zwei Tage!

Umwelt- & Nährstoffbedarf in der späten Blüte / Reifung

Auch in der Endphase müssen die Bedingungen stimmen, ändern sich aber teils:

  • Licht: Der 12/12-Zyklus wird beibehalten. Die hohe Intensität ist weiterhin wichtig für die finale Ausreifung und Harzproduktion. Manche Grower reduzieren die Intensität in der letzten Woche leicht, um Hitzestress an den obersten Blüten zu vermeiden oder den Abbau flüchtiger Terpene durch Hitze zu minimieren.
  • Temperatur: Jetzt sind oft etwas kühlere Temperaturen vorteilhaft. Tagsüber vielleicht nur noch 20-24°C, nachts gerne 16-20°C. Kühlere Nächte können bei vielen Sorten die Harzproduktion anregen und die Ausbildung von schönen Herbstfarben (Violett-, Rot-Töne durch Anthocyane) fördern. Zudem verlangsamt Kühle den Abbau von Terpenen.
  • Luftfeuchtigkeit (RH): Absolutes Minimum anstreben! Das Risiko für Botrytis (Grauschimmel) ist jetzt am allerhöchsten, da die Buds dicht und reif sind. Werte von unter 40-50% RH sind ideal. Ein leistungsstarker Luftentfeuchter ist oft Pflicht! Der VPD sollte entsprechend eher hoch (trocken) sein (>1.2 kPa).
  • Luftbewegung & Frischluft: Maximale Zirkulation im Zelt und hoher Luftaustausch sind weiterhin entscheidend, um Feuchtigkeitsnester in den Buds zu vermeiden. Die Luft muss ständig in Bewegung sein!
  • Wasser & Nährstoffe: Der Wasserbedarf der Pflanze sinkt in der Regel, da kaum noch neues Wachstum stattfindet. Es ist wichtig, das Substrat zwischen den Gießvorgängen nun stärker abtrocknen zu lassen, um die Wurzeln nicht im Nassen stehen zu lassen (was auch Schimmel fördern kann). Die Nährstoffgabe wird in den letzten 1-2 Wochen meist stark reduziert oder ganz eingestellt. Dies ist der Zeitpunkt des vieldiskutierten “Spülens” (Flushing):
    • Konzept: Die Pflanze wird nur noch mit klarem Wasser (ggf. pH-angepasst) oder speziellen Spüllösungen gegossen. Ziel soll sein, überschüssige Nährstoffsalze aus dem Medium und der Pflanze zu entfernen, was angeblich zu einem “reineren” Geschmack und besserer Asche führt.
    • Wissenschaftliche Evidenz & Kontroverse: Es gibt kaum bis keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Flushing in diesem Sinne funktioniert oder die Qualität verbessert. Die Pflanze baut Nährstoffe in der Endphase aktiv um und ab (siehe Seneszenz); ein “Ausspülen” von eingelagerten Salzen aus dem Pflanzengewebe ist physiologisch kaum möglich. Der Geschmack wird primär durch die Genetik und vor allem durch eine sachgerechte Trocknung und Fermentation (Curing) bestimmt. Exzessives Spülen kann die Pflanze sogar stressen und zu Mangelerscheinungen führen.
    • Meine (Herr Brackhaus) Empfehlung: Statt radikal zu spülen, empfehle ich eine deutliche Reduzierung der Düngerkonzentration (EC-Wert) in den letzten 1-2 Wochen und das Gießen mit klarem Wasser in den allerletzten Tagen vor der Ernte. Das vermeidet eine späte Überdüngung und erlaubt der Pflanze, ihre internen Reserven zu nutzen, ohne sie komplett “auszuhungern”. Aber das ist definitiv ein Thema, über das in der Community heiß diskutiert wird.

Phase 7: Seneszenz – Das natürliche Finale

Auch wenn wir unsere Cannabispflanzen meist ernten, bevor sie ihren natürlichen Lebenszyklus vollständig beenden, setzt gegen Ende der Blütephase die Seneszenz ein – der programmierte Alterungs- und Absterbeprozess der einjährigen Pflanze.

  • Sichtbare Zeichen: Das deutlichste Anzeichen ist das Vergilben der großen Fächerblätter, beginnend von unten nach oben. Die Pflanze mobilisiert Nährstoffe (vor allem mobile Elemente wie Stickstoff, Phosphor, Kalium, Magnesium) aus den alten Blättern und transportiert sie in die sich entwickelnden Blüten und Samen (auch wenn keine gebildet werden, läuft das Programm ab) oder speichert sie kurzfristig im verbleibenden Gewebe. Dieses herbstliche Vergilben ist in der späten Blütephase also völlig normal und sogar erwünscht – es ist kein Zeichen für einen Nährstoffmangel, den man bekämpfen müsste! Im Gegenteil, es kann zu einem sanfteren Endprodukt beitragen. Bei vielen Sorten treten jetzt auch, oft durch kühlere Temperaturen verstärkt, schöne violette, rötliche oder bläuliche Verfärbungen durch die Produktion von Anthocyanen auf.
  • Physiologische Bedeutung: Die Pflanze stellt das vegetative Wachstum komplett ein, die Photosyntheserate sinkt, Stoffwechselprozesse verlangsamen sich. Sie bereitet sich auf das Absterben vor, nachdem sie (aus ihrer Sicht) ihre Aufgabe – die Produktion von Samen für die nächste Generation – abgeschlossen hat oder abschließen würde.

Abschluss Kapitel 4 & Ausblick

Damit haben wir die faszinierende Reise einer Cannabispflanze von der Keimung des Samens über das kräftige vegetative Wachstum, die spannende Blütephase mit ihrer Harzproduktion bis hin zur Reife und dem natürlichen Beginn des Verfalls im Überblick betrachtet. Wir haben gesehen, dass jede Phase ihre eigenen biologischen Prozesse, Bedürfnisse und Ziele hat. Dieses Verständnis des Lebenszyklus ist die Grundlage für alle unsere gärtnerischen Maßnahmen, die wir in späteren Teilen dieses Guides (insbesondere Teil 9) detailliert besprechen werden – vom richtigen Zeitpunkt fürs Umtopfen über Trainingstechniken bis zum perfekten Erntemoment.